Charlotte Kersting
       



Wörter und Bilder


renaturiert

[2024]




            Ich war einmal ein Baum, 2010 war das, Blätter aus Polyirgendwas.

Hintergrund, schartig und jäh, Gestein, Wasser, Berge. Erkennt man nicht, weil hell und dunkel sich ineinanderschieben. Man sieht: Schwarzes Papier und Lücken, wo einmal Worte waren, Worte über Berge, Wasser, Gestein. Nur da, wo Worte nicht mehr sind, erhascht man einen Blick. Was man erkennt: Topfpflanzen, die sich überlappen, dahinter Wasserfall, Berge, Himmel. Hände, die Erde sieben, dahinter Gestein. Kontrast: Menschenhände, menschengemachte Erde, unverrückbares Gestein. 

            Tagebucheintrag vom 07.03.2017 (da war ich schon                     lange kein Baum mehr):
            Ich bin kein Stück vorangekommen, ich denke immer                   noch, ich müsste vorankommen.



[renaturiert]

Vorüberlegungen
für redaktio ad absurdum 3
[2024]


Ich war ein Baum, 2010 war das, Blätter aus Polyirgendwas,
meine Äpfel schmeckten süß
ich warf sie nach einer Blechdose
herzlos, daneben, Rinde lose von den Schultern hängend,
die Blechdose wollte ein Herz, aweful sentimental.

Meine Blätter trocknen, ich habe sie in der Spüle gewaschen,
sie waren schrecklich verstaubt. Damals war ich so –

Mein Blick fließt viel zu gerade, ich will ihn aufweichen,
die fernen Fixpunkte vermeiden, die die immer gleichen Zeichen unterstreichen,
will die geraden Wände sprengen, die die Erinnerung in enge Bahnen zwängen,
ich will ein Herz, das sich windet, sentimental, aweful.

           07.03.2017, da war ich schon lange kein Baum mehr:
           Ich bin kein Stück vorangekommen, ich denke immer noch, ich müsste vorankommen.

über das scheitern

[2024]


über das scheitern –
wie groß, wie klein – lächeln, weinen, sehen:
das goldene Leuchten der Betonbauten, spüren:
der warme Wind in den Haaren, hören:
eine Blockflöte spielt neuerdings immer mittags kleine Lieder
beim scheitern –
wie groß, wie klein* –
schwerer werden, leichter sein**

* Friederike Mayröcker was brauchst du
** Paul Celan die Niemandsrose

Zwischenton und freier Fall
scheinbar konsequent


oder:

Paradox

[2022]




erst denke ich, du bist überall. Im Humor wie in der Heuchelei, in tiefsten Seelenzwiespälten wie in oberflächlichen Geschmacksverirrungen. in meiner linken Hand, die diese Zeichnung zeichnet, weil sie der rechten zu kontrolliert gelingt.

dabei zerfließt du oft in tausend Zwischentöne, wenn ich genauer hinschaue. Dann denke ich, dass du eine Denkfaulheit bist, eine Ungenauigkeit der Sprache.

Konsequent existent vielleicht eben nur in abgeschlossenen Systemen, die durch keine Verquickungen mit der Welt getrübt werden; Sprache selbst, Logik, Mathematik.

wobei; ich muss nicht gar so streng sein.
du bist eben nicht nur der konsequente Widerspruch, sondern auch der scheinbare. du bist eben auch dieses; vorhersehbar, gerade darin, dass du die erwartete Meinung enttäuschst.

und; ich will dich ernst nehmen.
Im Kern bist du radikal. nimmst mir den Halt des binären wissen-Wollens und hältst mich zum Trost im freien Fall geborgen; im un-Wissen um schwarze Löcher und Unschärfe-Relationen, um tot-lebendige Katzen und Anfänge des Unendlichen.




Selbst gemacht

[2020]


Kopfüber, Silberdraht fest um deinen zierlichen Hals geschlungen, hängst du über meinem Schreibtisch. Wie ein Fisch an der Angel. Und wie einen Fisch habe ich dich ausgehöhlt, vorsichtig dein Inneres zerrieben, bis du nachgabst. Habe das zerrieben, was dein Leuchten hielt – das filigrane Gerüst, in das der Wolfram-Wendel eingespannt war, bevor er verglühte und dich Schrott werden ließ.

Ich habe dir ein neues Leben (lies: Zweck) gegeben.

Ausgeleert, umgedreht und neu befüllt baumelst du dich ein in deinen neuen Platz vor dem Fenster. Wie ein comic-hafter Geistesblitz, festgefroren in der Luft über meinem Schreibtisch-Kopf. Nur falsch herum. ahA. Als würde ich anerkennen, dass die Idee nicht aus mir kommt – ich bin kein Sockel, zapfe keinen Strom – sondern zu mir. Dabei habe ich dich selbst gemacht; ich tu-es-selbst, I /diaɪˈwaɪ/, für einen Hauch von Selbstwirksamkeit und Eigen-Zweck (lies: Leben). Ich tu-es-selbst, I‘m DIYing und finde heraus, dass www.diydying. com keine Selbstmordratschläge, sondern Bestattungen in Eigenregie anbietet, sowie „Todes-Geburtshilfe“ („death midwifery“). Und frage mich, warum geborenwerden mir passiert, sterben aber ein Verb ist, das ich scheinbar tun kann, wie atmen oder scheißen oder kaputte Glühbirnen zu Hänge- vasen upcyceln.Lange dünne Hälse luken aus dir hervor, die große blassgrüne Köpfe tragen, vollgestopft mit feinstem Rosa, das man noch nicht sieht, und doch sehen kann. Dann sind die Hälse vergammelt, glibschig und übelriechend geworden, noch bevor die Knospen explodieren und ihre Fülle verströmen konnten. Jetzt hängen sie, ich weiß nicht wie lange schon, vertrocknet in deinem Gewinde über meinem Schreibtisch- Kopf. Ein bisschen zwecklos. Ein bisschen Selbst.